Heratstil
Herat: Paradise lost
Sie waren Abenteurer, Aussteiger, Sehnsuchtsreisende. Vereint auf der Suche nach einer Welt jenseits des konventionellen europäischen Lebensstils, in dem sie aufgewachsen waren und den sie satt hatten. Hunderttausende junge Leute zogen in den 1960er und 1970er-Jahren entlang dem „Hippie-Trail“ gen Osten, in eine aufregende, wundervoll fremde kulturelle Sphäre. Von gelobtem Land zu gelobtem Land: Persien (wenngleich eine Tyrannis des Schahs, aber das sahen die Hippies entspannt), dann Afghanistan und als Krönung Indien. Nicht wenige schafften es indes gar nicht bis dorthin, wollten überhaupt nicht weiter, denn sie fanden schon in Afghanistan Orte ihrer Träume. Besondere Faszination entfaltete für die friedlichen Entdecker in ihren VW-Bussen oder auf Motorrädern die an der Seidenstraße gelegene Stadt Herat im Westen des damaligen Königreichs. Alte Pracht und kultureller Reichtum verbanden sich hier, in der „Perle der Provinz Khorasan“, wie sie die Dichter rühmten, betörend mit einer sinnesfrohen, weltoffenen, den Künsten zugeneigten Lebensart. Im jahrtausendealten Herat traf die westliche auf die östliche Boheme. Es kam zu Begegnungen, die zahllose Biografien immens bereicherten.
Lange her. 1979 wurde der Hippie-Trail brachial verbarrikadiert. In Persien siegte die Iranische Revolution, in Afghanistan rückten im selben Jahr sowjetische Truppen ein. Paradise lost.
Als Niaz Naseri 1988 in Herat geboren wurde, hielten die Besatzer das Land in hartem Griff. Dem ruhmlosen Abzug der Sowjets ein Jahr später, folgten mehrere Jahre bewaffneter Auseinandersetzungen der Miliztruppen im Land und schließlich eine brutale, radikalislamische Vormoderne.
Der Heranwachsende entdeckte dennoch, allen Drangsalierungen zum Trotz, die Kostbarkeiten seiner Heimatstadt, bildete sich im Traditionsschatz der einstigen Künstlermetropole fort. Niaz Naseri erlernte den Beruf des Grafikers, wurde professionell in arabischer Kalligraphie, den historischen architektonischen Strukturen und der gleichwohl von alters her überlieferten Formensprache geschult. Er sog Fresken, Ornamente, Teppichmuster, Fassadenreliefs und symbolische Sujets auf und übte sich darin, sie ausdrucksstark zu reproduzieren. All dies ist in der Kultur Heratscher Provenienz weit mehr als Zierrat, denn der Motivik liegen vielschichtige, nicht selten sogar philosophische Bedeutungsebenen zugrunde. Auch die Baukunst Afghanistans hat Naseri sehr geprägt. Mit der Transformierung der alten Zeichen und erzählenden grafischen Strukturen in einen modernen, individuellen Stil gelang ihm der Schritt vom Kunsthandwerk zur bildenden Kunst.
Seit seiner Flucht aus Afghanistan nach Deutschland 2015 lässt Niaz Naseri das historische, traumhaft schöne Herat auf seinen Gemälden wieder erblühen, verwandelt die Stadt liebevoll in einen Ort der Zuversicht. Sein Paradies ist noch lange nicht verloren